Das Babel der Bilder

Essay von Norbert Werker zu den virtuhaptischen Portraits



Das Gesicht eines Menschen. Eine Landschaftsaufnahme. Zwei Abbildungen von Wirklichkeit, die in Beziehung zueinander treten. Sie tun mehr als das: sie verschmelzen. Das Antlitz erhält räumliche Tiefe, die Natur wird körperlich. Doch dies geschieht nur im virtuellen Raum. Daten durchdringen einander auf magnetischen Speichermedien. Filter ordnen Pixel für Pixel neu, die Maus, sie wird zum Datenquirl, zum Taktstock beim Tanz der Farben und Formen. Ein paar letzte Formatierungsschritte beschreiben die physische Erscheinung einer Bildidee.

Norbert W., 06.2001 (Digitaldruck) Diese Idee ist nicht beliebiger Herkunft. Es ist die Idee des Malers Johannes Welter, der hier die erste Lage eines vielschichtigen Kunstwerks bereitet hat. Er hat im Vorfeld intensive Gespräche mit den abgebildeten Personen geführt, deren eigene Wahl von Portrait und Landschaft ergründet und sich auf diese Weise einen emotionalen Zugang zum Motiv verschafft. So fließt in Komposition und Arrangement des nun computergenerierten Bildes eine persönliche Verbundenheit Welters mit dem oder der Abgebildeten ein.


Das Bild wird gedruckt, es verläßt den virtuellen Raum und erlangt den Status des Dinghaften, eine wesenhafte, neue Welt stellt sich vor. Doch diese Welt ist bedroht. Der Ausdruck des Bildes wird zugleich Leinwand und Farbe eines neuen Bildes. Welter aktiviert die Druckfarben, löst sie vom Untergrund, spachtelt und pinselt, reißt und verklebt, verdeckt und entblößt, kurzum: er zerstört das glatte, perfekt erscheinende, computererzeugte Bild.

Was geht da vor?

Wir sind umstellt von Bildern. Unsere Zeit ist geprägt durch die Vorherrschaft des Visuellen. Die körperlose Künstlichkeit unserer Erfahrungsräume raubt uns den Blick auf die Wirklichkeit und enthebt uns der persönlichen Stellungnahme. Die Informationsgesellschaft neigt dazu, reale Erfahrungen und Deutungen durch bloße Illustrationen des Daseins zu ersetzen, die Wirklichkeit mit dieser Illusion zu vertauschen.

Der Reiz des banalen, distanzierten, rein betrachtenden Blicks, scheinbar neutral, verführt. Er schafft den Beobachter der Welt, den Sammler der rasenden Bilder, deren Deutung durch die andauernde Beschleunigung der neuen Reize ins Hintertreffen gerät. Sinnverlust ist eine Folge, das der Gesellschaft entledigte Ich geht auf die Jagd nach neuen Impulsen, um die als verloren empfundene Einheit von Sein und Bestimmung zu ergründen. Doch das Auge ist schneller und obsiegt.

Hört man heutige Reaktionen von Augenzeugen auf Katastrophen, so stellt sich die Erfahrungswelt bereits oft auf den Kopf gestellt dar. Fast das komplette Beschreibungsrepertoire der Augenzeugenberichte entstammt der Bildwelt von monumentalen Katastrophenfilmen. Das reale Ereignis wird in der Wahrnehmung überlagert von einer der Filmsprache entliehenen Fiktion. Diese wirkt zurück auf die Erkenntnisfähigkeit und erlangt den Status des Wahren. Die Lüge ist Wahrheit.

Die Lust am Sehen, das Drängen zum Licht, es berührt unsere instinktiven Ebenen. Die entwicklungsgeschichtliche Ausbildung von Überlebensstrategien des Menschen ist stark auf das Schauen bezogen. Wo Bewegung in der Umgebung Gefahr bedeuten kann, wird der Blick zum neuen Reiz zum Lebensretter. Reflexartig schweift die Aufmerksamkeit zum jeweils neuen Bild und unterbindet die Formulierung eines Gedankens. In einer Flut von Bildern verdichtet sich die Summe nicht verarbeiteter Impulse zum bildverstellenden Gewirr.

Der Turmbau zu Babel, der Versuch einer gemeinhin sinnstiftend gedachten Kulturleistung, ein architektonisches Großprojekt, scheitert an der Katastrophe der Kommunikation, der Verwirrung der Sprachen. Die Folgen: die Zerstreuung des gemeinsamen sozialen Wollens und somit folgerichtig die Zerstörung des Symbols selbst, der Einsturz des Turmes.

Norbert W., 30.06.2001 Aber in dieser Zerstörung liegt ein kreativer Impuls verborgen, der den Blick auf Elementares öffnet. Denn kulturelle Begriffe, die Zeichen, existieren im Bewußtsein länger als das von ihnen Bezeichnete. In der Dauerhaftigkeit von Sprache liegt ein Keim für die Bewältigung von Sinnkrisen. Das beständige Vorhandensein von Begriffen verlagert angesichts der Abwesenheit ihrer weltlichen Entsprechung den Schwerpunkt auf die geistige Ordnung der Welt. In der Überwindung der Dinglichkeit und des mit ihr verbundenen Kults der Oberfläche erlangt man ein Mittel, die verloren geglaubte bewußte Nähe zur Welt wieder zu finden. Nicht die Verwirrung der Sprachen ist das bleibend wirksame Moment der Babel-Geschichte, sondern die Ausbildung neuer Sprachen. So wird der Turmbau zum Ursprung verschiedener Kulturen, die unterschiedliche Wege suchen, sich und die Welt zu verstehen.

Wie die Sprache setzt auch die Malerei Mensch und Umwelt in Beziehung zueinander. Sie sind Instrument der Bedeutung und sinnlicher Ausdruck zugleich. Sie sollen Brücke sein für beide Seiten: die Welt der Dinge und die Welt der Vorstellung. Sie verlangen nach Gleichgewicht, nach Ausgleich. Zerstört man ihre Oberfläche, so scheint bis dahin Verborgenes hindurch. Worte offenbaren ihren Gehalt, Farben lösen sich von ihrer situativen Gebundenheit und offenbaren ihren seelischen wie emotionalen Selbstwert.

In der Zerstörung des Abbildes liegt also eine weitere Dimension verborgen, der Weg zu einem inneren Bild. Diesem Pfad folgt Johannes Welter in seiner Malerei. Im Spannungsfeld zwischen computergenerierter und physischer Malerei erforscht er neue Wege, die sich durch die veränderte Medienlandschaft anbietenden Bildwelten mit den Menschen zu versöhnen. Computerkünstler gibt es im Medium der Virtualität, dem Internet, naturgemäß zuhauf. Das Verarbeiten von Informationen zu Schaubildern, von Photographien zu Graphiken, von rohen Vorlagen zu eleganten Endprodukten war noch nie in der Geschichte zuvor so leicht zu bewerkstelligen wie im Computerzeitalter. Welters Kunst aber begnügt sich nicht mit dem Zeichengerät Computer. Der letzte Akt, die physische Bearbeitung des gedruckten Bildes, erhebt die Portraitlandschaften zu Seelenportraits.


© November 2001, N. Werker, Literaturwissenschaftler und freier Autor

Anlass dieses Essays war ein Ateliergespräch am 12.09.2001 über das virtuhaptische Portrait mit dem Arbeitstitel „Babylon-Ramme“ vom 30.06.2001,
das ich für den Autor angefertigt hatte.




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