für ein ander

das Portrait als Hinwendung -
Entwurf und Konstruktion von Beziehung

EMailInterview von Katja Schoepf, Köln


 

Vorab möchte ich zum Wesen dieses Interviews erwähnen, dass es nicht live stattfand, sondern sich nach einem Atelierbesuch bei Johannes Welter über Email-Kontakt während drei Monaten entwickelt hat. Es ist also ein geschriebenes Interview, was die Dichte der Antworten erklärt.

Johannes, Du hast Dich, seit Deiner ersten Ausstellung der virtuhaptischen Bilder, auf Portraits beschränkt. Was geschieht eigentlich, wenn sich ein Mensch von einem anderen Menschen ein Bild macht? Wie können wir Menschen einschätzen? Wie lernen wir sie kennen? Wie gehst Du dabei bei Deinen Portraits vor?

Die ideale Person für ein Portrait ist natürlich ein Freund, eine Freundin oder eine Lebensgefährtin, mit der mich schon eine länger andauernde gemeinsame Geschichte verbindet. Wir gingen gemeinsame Wege. Wir taten etwas zusammen. Wir teilten unterschiedlichste Stimmungen, Erlebnisse und Erzählungen miteinander. Wir tauschten Gefühle und Erfahrungen, wir schwiegen miteinander. Wir fühlten uns ein, grenzten uns ab, zogen und drückten, gaben nach und beharrten, verletzten und verbandelten uns, führten uns hinters Licht und zogen uns ins Vertrauen. Und selten taten wir das bewusst. Was sich dabei am meisten auswirkt und unsere Beziehung bestimmt, sind die untergründig wirkenden Einstellungen, die stillschweigenden Erwartungen und die unaussprechbaren Sehnsüchte, die sich durch das Resonanzphänomen übertragen. (Musterbildung der Persönlichkeit)

Bitte konkreter: Wie gehst Du vor, wenn Du ein Portrait erstellen willst? Wie machst Du Dir ein Bild von einem Menschen? Führst Du Gespräche? Muss das Modell anwesend sein?

Wenn ich die Person schon gut kenne, nicht unbedingt. Denn dann habe ich schon genügend inneres Material, das mir den Menschen vergegenwärtigt, so dass eine Anwesenheit dieser Person nicht unbedingt nötig ist, um mich an die Arbeit zu machen. Wenn ich die Person noch nicht kenne, zum Beispiel bei Auftragsarbeiten, ist mir die persönliche Begegnung und die Gespräche mit ihr sehr wichtig. Ich versuche, die oft kurze Zeit der Begegnungen sehr intensiv zu nutzen. Ich will mehr sehen, als mir gezeigt wird. Wenn die nötige Entspannung und ein erstes Vertrauen hergestellt sind, stelle ich also auch sehr persönliche Fragen. Fragen, die meinem Gegenübers oft genug vernachlässigte Blickwinkel auf sein eigenes Leben ermöglichen. Ich lege Wert darauf, dass diese Gespräche nicht einseitig verlaufen, sie also keine Interviews darstellen. Sondern sie sind ein Austausch zweier Menschen, der die Absicht verfolgt, sich gemeinsam voranzutreiben und in Gefilde zu kommen, die gemeinsam als intensiv und spannend erlebt werden. In der Gesprächssituation achte ich dabei vor allem auf die kleinen automatischen und repetitiven Gesten, die ich als Brücke in die Innenwelt meines Gegenübers nutze. Ich versuche also "hinter" die Person zu schauen, versuche meinen Blick und meine Aufmerksamkeit auf das "Dazwischen" zu lenken. Manchmal schließe ich die Augen oder schaue woanders hin, so dass ich die Person nur noch peripher wahrnehme. Dann kann ich gesprochene Worte besser sehen. Sie schwingen jetzt deutlicher. Sie bilden Linien und besitzen Farben. Man hört sie als Klang. Wenn ich die Augen wieder öffne, sehe ich noch einmal neu, wer da spricht. Ich bemerke die Haltung, spüre den Ausdruck. Ich registriere den Fluss der kleinen Bewegungen, Regungen, Erschütterungen, Erstarrungen, die beständig sich verändernd vor allem durch die Hände und durch das Gesicht huschen. Wenn ich unscharf schaue, wird der ganze Körper zu einem Instrument mit ganz eigenem Rhythmus. Ich achte darauf und versuche zu erspüren, was er sagt, bin aufmerksam dafür, wie er etwas sagt. Es sind die nichtsprachlichen Vorgänge wie der Tonfall, die kleinen Gesten, der Gesichtsausdruck, körperliche Spannungen, ... . Instinktiv bewerte ich und wähle aus. Ich fühle, was er meint. Ich nehme alles auf -dies geschieht wiederum hauptsächlich unbewusst- und sammle es in einem Gefäß. Dieses Gefäß trage ich immer bei mir. Hin und wieder kann ich in kurzen Momenten einen Blick unter den Deckel werfen. Ich stelle dabei fest, dass dort alles bisher Zusammengetragene weiterhin in Bewegung ist. Ich kann jedoch jedesmal nur das erkennen, was an der Oberfläche schwimmt, denn in dem Gefäß ist es dunkel. Manchmal spüre ich, wie der Deckel sich von selbst öffnet. Wenn ich achtsam bin, sehe ich, wie die Dinge an der Oberfläche Konstellationen bilden. Zugleich sehe ich mein Gegenüber wie in einem neuen Licht. Auf diese Momente kommt es mir an.

Ich frage mich, wie Du dieses komplexe Kommunikations-Geschehen in Formen bringst, wie dieser Beziehungs-Prozess zu einem Gemälde wird. Wie können die Erfahrungen und intuitiven Einsichten in ein Gemälde einfließen? Wie setzt Du Deine Erkenntnisse um?

Nicht, indem ich zuvor Gesehenes abschildere, wiederspiegele und wiederhole, sondern indem ich die Leinwand zum Gefäß meiner Sammlung mache. Ich mache das Bild zu einem Medium. Oder, noch genauer: der Malprozess selbst wird zum eigentlichen Medium. Malerei als Erkenntnisgenerator. Ich sammle hier alles, was Erinnerung an gemeinsam Erlebtes erzeugt, und ich halte den bildnerischen Umwandlungsprozess in ständiger Bewegung. So lange, bis etwas Neues entsteht und etwas zur Form gerinnt, was ich mit der Person verbinde.

Konkret und von Beginn an: Wie konzentrierst Du Dich, wie richtest Du deine Aufmerksamkeit aus?

Ein Portrait beginnt mit der Wahl einer Person. Wenn ich mir all die noch unbearbeiteten Fotopaare im Computer ansehe, fällt meine Wahl auf eine Person, die mich in diesem Moment besonders bewegt. Oder es fällt meine Wahl auf jemanden, von dem ich mich gerne bewegen lassen möchte. Die Beziehung muss attraktiv sein, die Person muss mich aktuell anziehen. Lust- und Energielevel müssen hoch sein, damit ein intensiver Kontakt während des Arbeitsprozesses möglich wird.

Die beiden Fotos sind also die Initiation, der Einstieg und die Einstimmung in das Portrait?

Sie sind der erste Auslöser für die Erinnerungen, noch bevor ein erster Schritt der Bearbeitung begonnen wird. Wenn die beiden unterschiedlichen fotografischen Motive (Gesicht und Landschaft) im Computer zu einem einzigen Bild transparent übereinander gelagert werden, kann dieses neue Bild zum Träger weiterer Erinnerungen und Deutungen werden.

Wie geschieht dies?

Solch ein chaotisches Bild, wie dieses Sandwich eines ist, in dem sich kein Motiv vor das andere drängt, provoziert unseren Blick zu assoziativen, gegenständlichen Ausdeutungen. Das ist ganz natürlich, aber ich lasse mich in dieser Arbeitsphase noch nicht darauf ein. Sondern ich benutze die Filter und die Werkzeuge des digitalen Bildbearbeitungsprogramms, um die gegenständlichen Informationen, sowie alle ausgelösten assoziativen Imaginationen in einem Bad von Farbe zu ertränken. Ich habe zwei interessante Aussagen meines Lieblingsmalers, dem Dänen Per Kirkeby, gefunden, der mir in seinen schriftlichen Äußerungen immer wieder Sprache und Bewusstsein vermittelt für das, was auch ich in meiner Malerei erlebe: "Nur im Zusammenbrechen der Idee entsteht malerisches Material." Form ist hier "nirgends und niemals als Erledigung, als Resultat, als Ende zu betrachten, sondern als Genesis, als Werden, als Wesen." "Durch Zufälle, die im bildnerischen Prozess liegen, kommt der Künstler von seinem eingeschlagenen Weg ab, und er folgt einer neuen Spur, die ihn zu einem anderen, vorher nicht imaginierten Bild führt. Dennoch: die Grundidee bleibt wirksam." Aus den in den Fotos vorgegebenen Farben heraus generiere ich größere Farbzusammenhänge, die dann weiter verändert und umgestaltet werden. Diese ersten Manipulationshandlungen geschehen schnell und spielerisch; ich lasse mich dabei von meinen Impulsen und von meinen Gefühlen leiten. Und es kommt der Moment, wo das momentane Bildgeschehen eine neue Erinnerung oder eine neue und intensive Vergegenwärtigung auslöst. Vielleicht kann jetzt deutlicher werden, was ich vorhin meinte: Ich sammle alles auf der Malfläche, was Erinnerung an gemeinsam Erlebtes erzeugt und was von Bedeutung ist für meine Sicht und für meine Beziehung zu der zu portraitierenden Person. Ich halte also meine Aufmerksamkeit von Anfang an (seit der Auswahl der Fotos) auf den zu Portraitierenden bezogen. Wie gesagt, kommt es mir nicht darauf an, Erinnertes konkret so zu visualisieren, dass ich es eins zu eins umsetzen kann. Schließlich soll das Bild selbst zu einem Erlebnis der Hinwendung werden. Mit Erinnerung meine ich etwas viel allgemeineres: die konkreten Gefühlsbewegungen und Ahnungsgeschehen, in die die Erinnerungen eingebettet sind, also das, was die verschiedenen Erinnerungen verbindet und was sie zu einer Form zusammen setzt/kom-poniert. Erinnerungen lassen das Wesen der Person für mich lebendig werden. Dadurch, dass ich mich von konkreten Abbildungsabsichten freihalte und intuitiv "darauflosmale", können diese Gefühlsbewegungen direkt in meine Handlungen und Entscheidungen einfließen und den Charakter des Bildes bestimmen. Deshalb geschieht es auch immer wieder, dass ich - durch neue Erinnerungen, die jetzt während der Arbeit am Bild entstehen- "Ähnlichkeiten" und Bezogenheiten feststelle zwischen dem Bildzustand und dem inneren Gefühls- und Ahnungsgeschehen, welches auf den Erinnerten bezogen ist. Dabei scheint beides gleich gültig zu sein: Die Erinnerung löst die Malhandlung aus, und umgekehrt löst die Malhandlung die Erinnerung aus. Insofern spüre ich die Person in den konkreten Spuren und Farbkonstellationen des zurerst virtuellen, und danach der materiellen, sinnlichen Überarbeitung des virtuhaptischen Bildes. Sie ist im Bild anwesend. Und weil das so ist, kann ich von einem Portrait sprechen.

Wenn man einem Deiner virtuhaptischen Bilder gegenübertritt und dann seinen Titel liest, ist man direkt irritiert, denn ein abstraktes Bild hat einen menschlichen Namen. Ein abstraktes Portrait - kann es das überhaupt geben?

Wir sind daran gewöhnt, ein Bild von einer Person nur dann als Portrait anzuerkennen, wenn wir äußere Ähnlichkeiten zwischen dem Gesicht des Portraitierten und dem künstlerischen Werk erkennen können. Wie die Kunstgeschichte seit Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen Facetten zeigt, eröffnet die nicht-abbildende Malerei einen Zugang zur Darstellung emotionaler Zustände, die sprachlich schwer zu fixieren sind. Im Rückblick lässt sich feststellen, dass selbst malerische Konzepte, die vorgeblich nur mit der Farbe als Material arbeiten, emotional wahrgenommen und gedeutet werden. Schließlich kann man ja auch feststellen, dass sich die abstrakte Malerei aus dem Expressionismus heraus entwickelt hat. Ich denke, wir können getrost davon ausgehen, dass der Mensch alles, was ihn umgibt, alles, was er sehen kann, was also Farbe, Form und Struktur aufweist, immer auch emotional aufnimmt und bewertet. Dies entspricht offensichtlich unserer genetischen Wahrnehmungsstruktur. (Die Wahrnehmungs- und die Gestaltpsychologie ... .) Ein abstraktes Bild spricht ähnlich der Musik unser Gefühl direkt an. Bei einem realistischen Portrait hingegen erfolgt die Deutung eher den abbildenden Hinweisen des Gemäldes. Diese sind benennbar und wir können sie als Metaphern gedanklich in einen symbolischen Zusammenhang setzen. Das nicht gegenständlich gebundene Malen ermöglicht es mir, zum Beispiel beim Portraitieren, mich ganz auf meine inneren Ausdrucksregungen konzentrieren zu können - unabhängig von einer Charakterisierung durch ein mehr oder weniger abstrahiertes Abbild der Person. Deshalb zerstöre ich die abbildenden Strukturen der fotografischen Vorlagen für meine virtuhaptischen Portraits. Diese ersten Manipulationshandlungen geschehen schnell und spielerisch. In meinen Suchbewegungen lasse ich mich dabei von meinen Impulsen, meinen Gefühlen und meinem ästhetischen Wissen leiten. Farbformen brechen, sind labil oder stabil, frei oder eingebaut, geben Halt, bedrohen das Gleichgewicht, bilden eine feste Struktur, entfalten sich miteinander, entwickeln Zeichenhaftes, ordnen sich zu Großzeichen, vielleicht auch zu ahnbar Abbildhaftem. Ich synthetisiere aus den fotografischen Vorlagen nach der Natur amorphe, lebendige Farb-Strukturen, die sich nach meiner inneren Notwendigkeit ausformen können und die als abstrakte Zeichen meine persönliche Sichtweise auf den Portraitierten zum Ausdruck bringen wollen. Das Portrait als Psychogramm der Beziehung zwischen mir und meinem Gegenüber. So verstanden kann man von meinen abstrakten virtuhaptischen Portraits auch von emotionalen Reflektionen sprechen. Ich experimentiere immer wieder auch mit semi-abstrakten Portraits, in denen Fragmente des Gesichts sichtbar bleiben, um dem Betrachter den Zugang zu meiner Sichtweise zu erleichtern. Das abstrakte Bild bleibt jedoch als Konzept bestehen. Indem ich also abstrakten Bildern einen persönlichen Vornamen mit einem abgekürzten Nachnamen auf dem Schildchen daneben zuordne, behaupte ich, dass die Bilder reale Personen darstellen. Sie stellen Bildnisse dar, Portraits. Damit will ich auch deutlich machen, dass abstrakte Bilder überhaupt als existierende Wesen betrachtet werden wollen.

Spielt das Leben der Portraitierten eine Rolle?

Meinst du mit dem Leben der Portraitierten, welche Lebensgeschichte sie haben, die Genese ihrer Lebenserfahrung? Potentiell kann in das Gemälde alles einfließen, was ich weiß, was ich erfühle und was ich ahne. Im Vorgang des Malens wird die Erinnerung aktualisiert. "Erst der im Beliebigen und Zufälligen einsetzende Malvorgang setzt Erinnerungen frei. ... Im Malen erinnere ich mich an das Erinnern", hat der Maler Per Kirkeby diesen Zustand und Vorgang treffsicher charakterisiert. Aber es fließt wohl hauptsächlich das in die Bildwerdung ein, was momentan auch aktiviert ist, was beim Malen momentan von Bedeutung ist. Das Leben des Portraitierten spielt eine Rolle, aber ich deute es von mir aus. Ich bin es, der den Portraitierten aus der Erinnerung konstruiert. Ich habe einmal eine Zen-Anekdote abgewandelt, um mit ihr zu verdeutlichen, was für mich ein Portrait bedeutet: Ein Malschüler durfte bei den Portraitsitzungen seines Lehrers anwesend sein. Je länger er ihn beobachtete, desto mehr wurde er verwirrt. Am ersten Tag fragte er sich, welchen Zusammenhang die abstrakten Farbflecken und -spuren wohl mit dem Gesicht des Modells bilden mögen, die wie beiläufig während des intensiven und persönlichen Gesprächs zwischen dem Künstler und seinem Modell gesetzt wurden. Er konnte das Gesicht nicht wiedererkennen in der Malerei seines Lehrers. War sein künstlerisches Verständnis zu klein für das, was sein Lehrer vor seinen Augen schuf? Er fühlte sich als unwissend und unbegabt. Aber am zweiten Tag fühlte er, wie langsam und unerbittlich in ihm ein zweiter, ein ketzerischer Gedanke aufstieg, nämlich, dass sein Lehrer nicht in der Lage war, das Gesicht erkennbar auf der Malfläche wiederzugeben. Am dritten Tag schließlich traute er sich, seinem Meister in einer Pause eine Frage zu stellen, die er sich lange überlegt hatte, denn er wollte sein Dilemma von Misstrauen und Unwissenheit nicht bloßlegen. "Was ist die Bedeutung eines Portraits?" Dieser hob seinen Arm und deutete dabei mit dem Zeigefinger auf die Person, die ihm Modell saß, während der Daumen seiner Hand gleichzeitig auf ihn selbst gerichtet war.

Deine Geschichte ist sehr anschaulich. In seiner Konsequenz auf die Lesart eines Portraits scheint mir der Aspekt der Beziehung zwischen dem Maler und seinem Modell all zu oft in den Hintergrund zu treten. Es ist notwendig, sich diesen Aspekt eines Portraits wieder in Erinnerung zu bringen. Bitte noch einmal zu deiner Praxis: Wenn sich die Form z.T. aus den Vorlagen ergibt, so ergänzt bzw. reduzierst Du ja auch. Interpretierst Du mit der Farb- und Formwahl, oder hat sie rein kompositorische Gründe? Was bestimmt die Farbwahl?

Farbe ist in meiner Malerei elementar. Aus ihr entwickelt sich alles andere. Vorhin sprach ich davon, dass ich die Strukturen in einem Farbbad ertränke. Ja, ich zerstöre das Offensichtliche, ich zerstöre immer wieder rücksichtslos das scheinbar Sichere, die etablierte Form, weil ich so auf neue Spuren komme, noch nicht Gesehenes sichtbar machen und wenigstens ahnen können will. Die Farben haben dabei eine ganz elementare Funktion. Sie ermöglichen erst die allgemeine, gefühlte Charakterisierung der Person. Seit dem Jahr 2004, bei den Geschwister-Portraits, kommt eine zusätzliche Beziehungsebene ins Spiel. Die kleine Geschichte, in der der Meister die Frage seines Schülers nach dem Wesen eines Portraits mit einer Geste seiner Hand beantwortet, deren Zeigefinger auf den Portraitierten zeigt, während der Daumen seiner Hand zugleich auf den Maler selbst deutet, könnte im Falle eines Doppel- oder Dreifachportraits weitergesponnen werden. Dann drehte er die Finger der Hand so, dass sie nun parallell zur Bildfläche ausgestreckt waren, hob die andere Hand vor sein Auge und zielte mit seinem Zeigefinger in die Richtung seines Blicks - genau zwischen die zwei gespreizten Finger der anderen Hand, die nun aussah wie eine Zwille. Bei einem Doppelportrait habe ich zusätzlich auch die Beziehung der beiden Dargestellten im Bild zu lösen. Was ich eigentlich als sehr positiv empfinde, da nun im Bild ein objektives Thema existiert, die Beziehung der beiden, was es mir leichter macht, mich zu vergessen.

In welchem Zusammenhang steht die virtuelle mit der haptischen Bearbeitung des Bildes? Welche Bedeutung für das abstrakte Portrait hat die Kombination beider Methoden, deine spezielle Technik der Virtuhaptik?

Das virtuhaptische Bild wird aus einer fotografischen Vorlage generiert, die menschliche und landschaftliche Strukturen aufweist. Diese visuellen Daten werden mittels des digitalen Bildbearbeitungsprogramms strukturell reduziert und abstrahiert, und bilden eine neue, parallele Struktur aus, die ähnlich "lebendig sich verhält", wie ihre Grundlage, die Natur. Sie fasst zusammen, gibt die Grundzüge der Komposition wieder und sie stellt das Farbmaterial zur weitergehenden haptischen Verfremdung. Mit zunehmender Erfahrung beziehe ich Vorstellungen über eine mögliche malerische, analoge Überarbeitung schon in der digitalen Entwicklungs-phase des Bildes mit ein. Wichtig ist, dass ich das virtuelle Bild am Bildschirm in einem Zustand des Unfertigen, des Rohen belassen kann. Das erste Bild kann dann leichter transformiert und auf eine neue Bedeutungsebene gehoben werden. Das Wesen der Mischtechnik ist es, dass das neue Material einen starken Kontrast zur ersten Bearbeitungsschicht bildet, der dann wieder zur Bildung eines neuen Zusammenhangs herausfordert.

Kannst Du die Bedeutung der informellen Spuren in Charakteraussagen und Beziehungsbedeutung des Portraitierten übersetzen, das heißt sprachlich ausdrücken? Bist Du Dir über Deine Interpretation bewußt?

Ja. Aber die bewußte Interpretation bleibt immer nur an der Oberfläche. Du hast mich vorhin gefragt, ob ich mit der Farb- und Formwahl interpretiere, oder ob meine Entscheidung rein kompositorische Gründe hat. Ich glaube, ich habe bisher nur ungenügend darauf geantwortet, und kann jetzt noch mal gut darauf zurück kommen. Deine Frageform des Entweder-Oder unterstellt, dass in der Kunst beides von einander getrennt ist. Aber das ist eine falsche Grundannahme. Beides fließt ineinander! Die kompositorischen Überlegungen - zum Beispiel in der haptischen Bildentwicklungsphase - sind zunächst Phantasien über verschiedene Möglichkeiten der Umgestaltung des Plotterausdrucks mit den verschiedenen Materialien und Werkzeugen. Die erste Idee versuche ich ganz besonders wach aufzunehmen, jedoch lasse ich mir gerne noch etwas Zeit und spiele erst noch einige andere Möglichkeiten in meiner Vorstellung durch, bis ich mich entscheiden kann. Alles muss aus der Verbundenheit zu dem Portraitierten kommen und wird an ihm erwogen. Einmal mit der Person imprägniert, kann das Thema im Bild nicht mehr verloren gehen. Denn, was ich auch tue, damit es verschwindet, es wird wieder erscheinen - dann in einer neuen Form und einen überraschenden Zusammenhang bildend. Jede kompositorische Erwägung ist bezogen auf das gesamte Bild und ist somit gebunden an die Person. Doch soll man das Malen nicht als rationale Angelegenheit mißverstehen. Das Rationale ist nur ein Teil dessen, was beim Malen die Entscheidungen fällt. Viel mehr ist es das Gefühl für das Ganze, eine Ahnung der inneren Zusammenhänge. Rein kompositorische Gründe gibt es nicht, wenn ich ein Portrait male.

Welche Kriterien hast Du, um mit einem Bild zufrieden zu sein?

Das Portrait entwickelt sich im Spannungsfeld von Vergegenwärtigung der Person und Gegenwärtigkeit der Materialien. Es ist konkreter Ausdruck geistiger, emotionaler und intuitiver Prozesse, ein persönlicher Entwurf einer Erkenntnisweise, die verborgene und unaussprechliche Eigenschaften und Zusammenhänge anschaulich macht - und zwar für beide Beteiligten. Das Portrait funktioniert, wenn es für sich steht und mir einen neuen, überraschenden Blick auf den Portraitierten ermöglicht. Dann hat sich hinter dem Erkennen eine stumme Ahnung ausgebreitet.

Hast Du Rückmeldungen, inwiefern sich die Protraitierten in Deinen Bildern wiederfinden?

Leider viel zu wenige. Obwohl ich von Anfang an dazu animieren wollte. In der Internet-Dokumentation meiner virtuhaptischen Portraits machte ich 2002 das Angebot ein Portrait zu erstellen, verbunden mit dem Recht auf einen guten digitalen Druck und dem Vorkaufsrecht auf das Original, wenn sie versprechen mir eine persönliche Reaktion auf ihr Portrait zuschicken. Dieses Angebot wurde nur von zwei Personen genutzt. Ich werde offensiver an diese Kommunikation herangehen müssen. Im Fall Christina (die Frau von Johannes Welter; Anmerkg. v. K.Sch.) war ich erstaunt über ihre positive Reaktion auf ihr Bild, denn es schien mir etwas melancholisch geraten, wo ich sie doch grundsätzlich eher der hellen Wärme zuordnen würde. Aber es stellte sich heraus, dass mein Bild treffsicherer war, als ich. Doch ich kann die Treffsicherheit und Ausdrucksstärke eines Portraits nicht wissenschaftlich verifizieren. Viele Reaktionen, auch von Nahestehenden der Portraitierten, bestätigen mich jedoch in meiner Intuition. Deshalb sage ich gerne, dass meine Bilder schlauer sind als ich. Ich denke, es ist schon sehr viel gewonnen, wenn über die Betrachtung eines abstrakten Portraits Gedanken und gar ein Austausch über Gedanken entwickeln, die Ich habe den Eindruck, dass die meisten Menschen sich nicht trauen, ihrem Bildnis in einer Kommunikationssituation nachzuspüren. Denn es gefällt ihnen ja nicht unbedingt, es scheint ihnen vielleicht fremd. Wie viele Menschen haben Dich schon gefragt, wie sie Dich sehen, was sie von Dir halten? Will man wirklich etwas über sich erfahren? Interessiert uns der Blick des anderen auf uns? Oder haben wir Angst vor dem interessierten Blick des anderen?

 


© Oktober 2005, K. Schoepf



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