Das Verhalten zu abstrakten Bildern

von Heinrich Lützeler



 

Aus meiner künstlerisch-pädagogischen Arbeit weiß ich, wie schwer es den meisten Menschen fällt, sich gegenüber einem abstrakten Bild angemessen zu verhalten. Für eine intensive Betrachtung müssen die Hilflosigkeit, die Leichtfertigkeit und die Ablehnungshaltung der Betrachter überwunden werden.
In meinen Seminaren stelle ich jedoch gleichzeitig immer wieder fest, dass die meisten Menschen abstrakte Bilder malen und ihnen eine eigene dynamische Ordnung geben, selbst wenn sie diese als willkürliche oder rein zufällige Handlung abtun mögen.
Es ist im Menschen ein abstrakter Sinn. Wie ein eingeborener Instinkt ist er in jedem vorhanden. Leider bilden die meisten ihn nicht aus, sondern unterdrücken ihn mit ihrem rationalen Kontrollbedürfnis, mit ihrer gegenständlichen Fixierung oder mit ihrer Ignoranz gegenüber dem Unfassbaren, dem Geistig-Seelischen.
Heinrich Lützeler gibt in seinem nachfolgenden Text hilfreiche Hinweise, wie man abstrakten Bildern begegnen kann, oder anders gesagt, welche Haltung abstrakte Bilder von uns fordern.
(J.Welter)


Jackson Pollock Ob nun abstrakte Bilder als Lehrstücke genommen werden, ob sie über alle bloße Beschreibung hinaus Ordnung und Bewegung rein als solche vergegenwärtigen, ob sie die Welt erfindend weiterschaffen möchten, immer wenden sie sich an unsere Aktivität. Sie fordern von uns nicht nur ruhige Betrachtung, sondern Mitvollzug. Wir sollen die gezeigte Ordnung mitbauen, das in ihnen enthaltene Werden mitleben. Sie wollen nicht nur vor uns, sondern in uns sein. Sie sind so angelegt, dass wir an ihrer Entstehung teilnehmen können. Immer wieder bieten sie uns Formen an, die uns zum Mitschreiten, Mitschwingen einladen. Farben führen uns auf Bögen und Bahnen, in Vorstößen und Kreuzungen, so dass wir, ihnen folgend, schließlich des Bildes inne werden. So "erwirken" wir in tätigem Schauen allmählich den Zusammenhang der Teile; wir weben uns gleichsam in das Bildgewebe hinein.

Egon SchieleGegenständliche Bilder sind dagegen geschlossen und abgeschlossen. Wir blicken auf sie wie auf eine andere Welt. Diese Welt ist festgefügt in der Landschaft, den Dingen, den Figuren und ihrer Beziehungen aufeinander. Wir bewundern Gleichgewicht, Gliederung, Verkettung und erfassen nach und nach den Sinn eines solchen Vorgehens. Wir deuten schließlich Farben und Formen auf jene Sinn-Mitte hin. Zwar dürfen wir an allem, was dargestellt ist, teilhaben - am Grün einer Wiese, an der Schönheit eines Menschen, an einem hitzigen Kampf oder einem Aufschrei. Aber weder Mensch noch Natur bedürfen unser. Das Werk ist fertig. Auch wenn auf der Bildtafel jemand in die Ferne blickt oder zwei aufeinander zugehen, so hebt auch dies das Fertigsein nicht auf: die Bewegung ist fixiert und hat eine fixierte Funktion im Ganzen. Es macht gerade den Zauber gegenständlicher Kunst aus, dass sie uns jeweils ein in sich ruhendes Bild-Reich zeigt; erstaunlich und in seiner Vollkommenheit kaum glaublich, "erscheint" es vor uns, "tut es sich auf" - und wir müssen uns zu ihm hinbemühen, wir schauen darauf in reiner vita contemplativa. Gebannt und selbstvergessen schauen wir ein anderes, fremdes, reiches Sein. Es kann uns in der Tiefe berühren und bestimmen.

Jerry ZeniukAbstrakte Bilder regen zum Mitvollzug an. Er gehört wesentlich zu ihrer Bildwirksamkeit. Indem wir ihre Rhythmen, Maßverhältnisse, Ordnungen "mitmachen", lassen sie in uns selber ähnliche Rhythmen, Maßverhältnisse, Ordnungen entstehen. Wir fühlen uns angesprochen; wir erinnern uns plötzlich, dass es bei uns genauso sein könnte. Wir schwingen mit, wie eine Saite leise zu singen beginnt, wenn ein bestimmter Ton angeschlagen wird. Auf uns kommt es also durchaus an. Ein abstraktes Bild, das unser eigenes Leben nicht in Bewegung versetzt, ist dann eben nicht für uns geeignet. Oder es ist vielleicht auch künstlerisch unzureichend, weil es zu arm ist, oder zu wenige Möglichkeiten in sich schließt. Es gibt mancherlei Kriterien für den Rang eines abstrakten Bildes. Wir sprachen z.B. über seinen Charakter als Gestaltung, seine innere Notwendigkeit. Diesen Zug teilt es mit aller Kunst - der Architektur, der Musik, dem Tanz, usw. Aber es besitzt auch spezifische Qualitäten - z.B. dass es um so mehr an Wert gewinnt, je mehr Akte des Mitvollzuges es auszulösen vermag, und dass es um so mehr an Wert verliert, je starrer, festgelegter es wirkt.

Abstrakte Bilder führen uns zu Meditationen; sie erstreben solch eine enge Verflechtung von Werk und Betrachter. Freilich ist nicht jede Art von Meditation zulässig; man muss die werkbezogene und die ichverhaftete unterscheiden. Viele Menschen erleben alles - vom Kleinen bis zum Großen - nur auf sich hin und legen es nur auf sich aus. Goethe, Michelangelo und Beethoven scheinen dann allein deswegen zu existieren, damit sich Herr Schmitz als groß empfinden, Frau Schmitz ihren Busen in Wallung genießen kann. Um es einmal krass zu sagen: vielleicht kommt ihnen ein Miró gerade recht als Schnittmuster für das nächste Karnevalskostüm, ein Marc liefert die Farbe für einen neuen Sommerhut, und vor einem Macke lässt sich so wohlig an das eigene hochexplosive Herz denken. In solcher Einstellung wird die Kunst zum bloßen Material der Innerlichkeit. Die Ichvergaffung aber sperrt den Zugang zu allem, was anders ist als Ich. Die Innenkonzentration degradiert die Kunst zum "Rausch- und Erregungsmittel". Allein in der Außenkonzentration erschließt sie sich - und zwar nur durch die Beachtung jeder einzelnen Form, in einem strengen, entsagungsvollen Sehen. An kunstvernebelten Subjektivismus ist hier nicht gedacht, wenn von den Reflexionen die Rede ist, welche die abstrakte Malerei auslöst. Die Erwägungen, die Rechtens sind, kommen aus dem Werk selber, aber gehen dann weiterwirkend, erhellend, vorantreibend zu uns.


Per Kirkeby

Abstrakte Bilder, die spielen, können in unser Leben "hineinspielen". Solche, die ordenen, können uns bei unseren Akten des Ordnens gegenwärtig sein - mag nun der Ort der Handlung eine Schule, ein Gericht, eine Fabrik, ein Baubüro, eine Kabinettsitzung oder ganz einfach unser persönliches Leben sein. Solche, die von der Gewalt des Werdens ergriffen sind, können, wenn wir Studenten sind, unser erschütterungsfreies Brotstudium, wenn wir Beamte sind, unseren erschütterungsfreien Fahrplan in Frage stellen; sie geschehen vor uns anklagend oder verlockend, wenn wir uns vor lauter Bequemlichkeit gegen das Neue abriegeln und dem Kult unserer Gewohnheiten frönen; sie rufen uns unablässig zu, dass der Mensch nur so lange Mensch ist, als er wird.

Weil abstrakte Bilder ohne Figuren sind, kann ich selbst als Figur in sie eintreten; weil sie ohne Landschaft sind, kann ich sie in in die Landschaften des äußeren oder inneren Lebens mitnehmen. Sie haben, bei aller künstlerischen Folgerichtigkeit, etwas produktiv Unfertiges - im Hinblick auf den sehenden und empfindenden Menschen.
Dabei schließen sie eine schöpferische Mehrdeutigkeit in sich. Sie wandeln sich in ihrer Bedeutung, je nachdem dieser oder jener Betrachter in Bezug zu ihnen kommt. Sie wandeln sich freilich nicht willkürlich, sondern nur in ihrem Rahmen, in einem bestimmten Spielraum. Versucht man sie willkürlich auszulegen, so sperren sie sich dagegen durch ihre Form; gewisse Linien, Flächen, Farben usw. lassen sich plötzlich nicht mehr erklären, gewisse Züge des Bildes fallen aus und müssen unbeachtet bleiben, weil sie in die unsachgemäße Interpretation des Betrachters nicht hineinpassen. ... So begleitet uns das Bild sowohl in die objektive Natur wie in unsere Subjektivität hinein. Es ist keine abgeschlossene Aussage, sondern ein "Führungsfeld" des Erlebens. "Führungsfeld" ist ein Terminus der Quantentheorie. Er besagt, dass es einen potentiellen Zustand der Materie gibt. Die Elementarteilchen haben dann ein Führungsfeld, das ihnen für künftige Materialisationen die Plätze bestimmt. In diesem Sinne ist ein abstraktes Bild weder fixiert noch willkürlich. Es lässt eine Reihe von Erlebnissen als angemessen zu und klammert andere als unangemessen aus. Man kann nicht vor ihm x-beliebige Empfindungen und Vorstellungen haben; aber man kann doch eine eingegrenzte Mannigfaltigkeit von Empfindungen und Vorstellungen haben. Zwar ist der Erlebnishorizont definiert, aber nicht das einzelne Erlebnis. ...

Gerhard Richter Im übrigen aber gibt es mehrere legitime Arten, ein abstraktes Bild anzusehen. Verschiedenartig ist schon der Ansatzpunkt, den wir für den Weg unseres Auges wählen; der eine beginnt vielleicht von der Mitte nach außen, der andere von außen zur Mitte hin zu schauen - jeder mag versuchen, wie weit er mit seiner Methode kommt, ob er mit ihr überhaupt das Ganze des Bildes mit seinen vielfältigen Bezügen erreicht. Eine andere besteht darin, dass man sich rein an den Formen erfreut - etwa an behenden Linien oder dem Hervorgang einer Farbe aus der anderen; dies sinnenhafte Erfühlen des Werkes ist auf jeden Fall unerlässlich und sollte stetig vertieft werden. Man kann auch das Bild auf verschiedene Stufen unseres eigenen Erlebens beziehen; wir schlugen z.B. das Bild eines Werdeprozesses für die Sicht von Künstlern oder Denkern, Staatsleuten oder Liebenden vor, weil sie alle ja im Werden stehen und ein glückendes Werden von ihnen verlangt wird; das Bild wird jedem von ihnen etwas anderes antworten - aber jeweils aus seinem Kern und jeweils etwas Bezügliches.

Abstrakte Bilder regen in verschiedenem Maße zum Meditieren an. Einige beschränken sich auf wenige auslösende Linien - und dann liegt vor dem Betrachter ein weites Feld, dass er füllen soll. Hier erhält das Bild den Charakter des bloßen Zeichens, des Mandala. Wir erkennen nun, dass Mandala und Lehrstück aus dem Wesen der abstrakten Malerei folgen und nicht zufällig entstanden sind. Das Bild sagt uns dann gleichsam nur einen knappen wegweisenden Satz, und an uns liegt es, weiterzudenken. Es sendet einen Blitz aus, und an uns liegt es, in seinem kurzen raschen Licht die Orientierung zu finden. In anderen Fällen dagegen ist das Bild ausgeprägter, es führt uns stärker, es setzt viele Markierungspunkte. Statt nur einen Impuls zu vermitteln, klärt der Künstler einen vielschichtigen Zusammenhang. Wir aber fühlen uns nicht nur auf einen Weg gewiesen, sondern auf einem Weg begleitet - zu vielen Stationen, Verwicklungen, Ausblicken. Auch aus dieser Situation kann sich ein langer und sehr persönlicher Umgang mit dem Bild entwickeln.


© H. Lützeler, "abstrakte Malerei", Bertelsmann Lesering / Gütersloh, o.J.




zurück zu "Könnt ich mich ..."

zurück zu >die Idee 3<

zurück zum Inhaltsverzeichnis